Verspielte Träume aus Tausendundeiner Nacht – Schachturnier in Hamburg nach Original arabischen Regeln

Von René Gralla

Der Mann war Jurist und Rebell. Und obendrein verblüffte er die Zeitgenossen gerne am Spielbrett: Sa’id ibn Jubair demütigte oft erst frohgemute und alsbald tief verzweifelte Herausforderer reihenweise mit eleganten Attacken und fiesen Tricks, die er ohne Ansicht des jeweiligen Matchgeschehens plante und fehlerfrei exekutierte. Indem er konsternierten Gegnern und wechselnden Figurenarrangements auf Tischen, die geschäftstüchtige Impresarios eilfertig bereitstellten, nonchalant und selbstgewiss den Rücken zukehrte.

Die sensationellen Stunts machten den mental derart präsenten Rechtsgelehrten vor gut dreizehn Jahrhunderten zum ersten Athleten des Denksports, der Partien quasi „blind“ ausfechten und gewinnen konnte. Und das war Grund genug für eine Gruppe Enthusiasten aus Deutschlands boomender Port City an der Elbe – allen voran Schachlehrer Jürgen Woscidlo sowie ChessBase-Autor und Rechtsanwalt René Gralla – , dieser Tage den 665 wahrscheinlich in Äthiopien geborenen Meister (der nach manchen Quellen später unter anderem im Raum Mekka aktiv war) posthum zu ehren und ihm einen Platz zu reservieren in der Hall of Fame des Spiels der Spiele: mit einem „Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial“ am 22. Oktober 2016 im Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg.

Unterstützt das Shatranj-Revival: Tunesiens Konsulin in Hamburg, Frau Sonia Ben Amor. Foto: Bernd-Jürgen Fischer
Unterstützt das Shatranj-Revival: Tunesiens Konsulin in Hamburg, Frau Sonia Ben Amor. Foto: Bernd-Jürgen Fischer

Der historische Wettkampf, großzügig unterstützt von der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft (DTG) und dem Tunesischen Konsulat in der Elbmetropole, gehörte zu einem der ersten Höhepunkte der diesjährigen Arabischen Kulturwochen: eine mehrfach preisgekrönte Veranstaltungsreihe, die sich unter Federführung ihres Initiators Dr. Mohammed Khalifa als fester Bestandteil im herbstlichen Eventkalender der Hansestädte Bremen und Hamburg etabliert hat. Und es kam nicht von ungefähr, dass die Lebensleistung des Sa’id ibn Jubair exakt 1302 Sommer nach brutalem Finale – wegen angeblichen Hochverrats musste der gefallene Held den Gang auf’s Schafott antreten – nun endlich gewürdigt wurde, und zwar ausgerechnet in der kompetitiven Form eines Turniers.

Schließlich zählte der legendäre Champ zu den frühen Superstars in einer bestimmten Variante des Denksports, die „Shatranj“ hieß und nichts weniger war als die Originalausgabe des heute rund um den Globus beliebten Schachspiels. Denn nachdem unbekannte Tüftler wohl Mitte des fünften Jahrhunderts auf dem indischen Subkontinent das Szenario eines simulierten Zusammenpralls zweier Heere samt notwendigem Regelwerk kreiert hatten, segelte jenes „Chaturanga“ an Bord tamilischer Handelsschiffe ostwärts, landete auf Java – das damals zum hinduistisch geprägten Königreich Srivijaya gehörte – und wanderte im Gepäck von Kaufleuten und Reisenden über die Malaiische Halbinsel gen Norden.

Bis in die Gegenwart wird Indiens Protoschach in minimal modifizierter Form leidenschaftlich gezockt in Südostasien: Die Communities in Thailand und Kambodscha bleiben mehrheitlich ihren Chaturanga-basierten Games „Makruk“ respektive „Ouk Chatrang“ treu, während Mainstream Chess approved by FIDE höchstens in elitären Kreisen goutiert wird.


Fröhliche Urständ feiert Kambodschas „Ouk Chatrang“, ein naher Verwandter des arabischen „Shatranj“ aka altindisches „Chaturanga“ im Khmer-Style, an den unwahrscheinlichsten Plätzen im Universum … so jüngst unter norddeutschem Himmel in der rauen Provinz am Rand der Lüneburger Heide: In Sinstorf trafen sich ChessBase-Autor René Gralla (li.) und Jürgen Woscidlo (re.) zu einem Showcase-Game.


Parallel dazu erreichte Chaturanga in westlicher Gegenrichtung über Persien den arabischen Herrschaftsbereich und fand unter dem abgeänderten Namen „Shatranj“ rasch glühende Anhänger. Eine Popularität, die nicht auf die muslimische Hemisphäre beschränkt blieb, sondern sukzessive auszustrahlen begann auch auf das christliche Abendland.

Worin aber unterschied sich das besagte Shatranj vom aktuellen Standardschach, in dem Posterboys der digitalen Ära reüssieren wie ein Magnus Carlsen? Die indo-arabischen Shatranj-Könige mussten in der 64-Felder-Arena nicht kuschen vor dominanten Damen, sondern durften zum Ausgleich schwächliche Hofschranzen – sprich: Wesire – mobben. Und statt raumgreifender Läufer forderten robuste Elefanten den ihnen gebührenden Respekt ein.

Von Bagdad bis Rom, vom maurischen Granada bis nach Worms im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation: Mehr als 800 Jahre war Shatranj die quasi amtliche Schachversion überall dort, wo helle Köpfe die Kunst der Mattführung pflegten (sieht man von den Sonderfällen China und Japan und deren Eigengewächsen „Xiangqi“ und „Shogi“ ab). Ein unschätzbar wichtiger Beitrag der arabischen Welt zum Kulturerbe der Menschheit – der freilich zwischenzeitig leider in Vergessenheit geriet: die Konsequenz einer Revision des Spiels, die Ende des 15. Jahrhunderts von spanischen und italienischen Profis vorangetrieben wurde und Elefanten samt Wesiren schnöde austauschte gegen Läufer plus Damen.

Das moderne Schach war geboren, und bald wusste außerhalb der Wissenschaftszirkel niemand mehr, dass eine veritable Shatranj-Welle einst im Bagdad der Kalifen quer durch alle Bevölkerungsschichten die Fans inspiriert hatte. Großmeister, die „Aliyat“, trugen umjubelte Zweikämpfe aus, und berühmte Autoren vom Schlage eines al-Adli, ar-Razi und as-Suli veröffentlichten im 9. und 10. Jahrhundert epochale Lehrbücher.

Lehrstunde von einem der Gurus des Shatranj-Revival: am Brett mit Jürgen Woscidlo (re.) vom Organisationskomitee des "Sa'id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016". Foto: Bernd-Jürgen Fischer
Lehrstunde von einem der Gurus des Shatranj-Revival: am Brett mit Jürgen Woscidlo (re.) vom Organisationskomitee des „Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016“. Foto: Bernd-Jürgen Fischer

Den Schatz des versunkenen Shatranj heben: ein Vorhaben, das leicht größenwahnsinnig anmutet. Und für das nichtsdestoweniger das Zweiergespann Jürgen Woscidlo und René Gralla hartnäckig trommelt, mit dem Probelauf eines Jugendturniers am 20. November 2015 in den Räumen der Hamburg-Heimfelder Grundschule Grumbrechtstraße (ChessBase war vor Ort: http://de.chessbase.com/post/schach-mit-elefanten).

Sichtlich zufrieden über die Anschlussveranstaltung „Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016“ zeigte sich deswegen René Gralla vom Organisationsteam in seiner Begrüßungsrede: Hier werde „ein Stück Kultur- und Sportgeschichte geschrieben“. Und der Journalist erinnerte in diesem Zusammenhang an erste Pläne vor gut 100 Jahren, das Shatranj aus der Versenkung zu holen: In der einschlägigen Disziplin sponserten nämlich die renommierten Fachmagazine „Deutsches Wochenschach“ und „Berliner Schachzeitung“ 1913 ein Korrespondenzturnier, das erst 1915 in den Wirren des Ersten Weltkriegs versandete.


Unter dem nachfolgenden Link zwei Partien des Shatranj-Fernturniers von 1913 bis 1915 zum Nachspielen – einer der Favoriten war Walther Freiherr von Holzhausen – ; plus weitere Gehversuche im klassischen Arabischen Schach, die im 20. Jahrhundert dokumentiert worden sind:

http://www.chess-poster.com/english/shatranj_games/modern_games_of_shatranj.htm


 René Gralla, Co-Organisator des Shatranj-Turniers (li.), dankt Gabriele Kamensky (Mitte) von der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft für großzügigen Support und dem Chef der Arabischen Kulturwochen, Dr. Mohammed Khalifa (re.), für die Aufnahme des Shatranj-Turniers in das Programm der renommierten Veranstaltungsreihe. Foto: Bernd-Jürgen Fischer
René Gralla, Co-Organisator des Shatranj-Turniers (li.), dankt Gabriele Kamensky (Mitte) von der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft für großzügigen Support und dem Chef der Arabischen Kulturwochen, Dr. Mohammed Khalifa (re.), für die Aufnahme des Shatranj-Turniers in das Programm der renommierten Veranstaltungsreihe. Foto: Bernd-Jürgen Fischer

Außerdem sei ein Relaunch des Shatranj überfällig, meinte René Gralla: „In Thailand und Kambodscha gehören Makruk beziehungsweise Ouk Chatrang – die sich eng anlehnen an das indische Chaturanga und das arabische Shatranj – zum Kanon der Volkssportarten. Da sollte es Ehrensache sein, The Real Thing auf den Weg zu bringen: das echte Shatranj!“
Ausdrücklich dankte René Gralla der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft und deren Repräsentantin Gabriele Kamensky für wertvollen Support: „Die Freundschaft zwischen Deutschland und Tunesien hat eine lange Tradition. Und jetzt ist die Tunesische Republik ein leuchtendes Vorbild – wie die demokratischen Errungenschaften des Arabischen Frühlings auch in Zukunft bewahrt werden.“ Insofern sei es „voller Symbolkraft, dass Tunesien, wo Tradition und Glaube an den Fortschritt eine glückliche Symbiose eingehen, den entscheidenden Anstoß gibt für eine Renaissance des Shatranj aus Tausendundeiner Nacht!“

Tunesiens Konsulin in Hamburg, Frau Sonia Ben Amor (li.), bei der Begrüßung der Turnierteilnehmer (rechts daneben: das Organisationsteam René Gralla, 2.v.li., und Jürgen Woscidlo, 3.v.li., mit Hamburgs DTG-Chefin Gabriele Kamensky, 4.v.li.). Foto: Bernd-Jürgen Fischer
Tunesiens Konsulin in Hamburg, Frau Sonia Ben Amor (li.), bei der Begrüßung der Turnierteilnehmer (rechts daneben: das Organisationsteam René Gralla, 2.v.li., und Jürgen Woscidlo, 3.v.li., mit Hamburgs DTG-Chefin Gabriele Kamensky, 4.v.li.). Foto: Bernd-Jürgen Fischer

Ein Gedanke, den Tunesiens Konsulin Sonia Ben Amor in ihrem Grußwort aufnahm und versprach, auch zukünftig das Projekt zu begleiten. Anschließend sagte Fabian Krahe, der am Rechner die Paarungen zusammenstellte, die Begegnungen der ersten Runde an. Der Startschuss für flotte Manöver – dazu zwang das straffe Zeitbudget, sparsame 15 Minuten pro Kandidat und Partie – und schonungslose Balgereien zwischen Elefanten und Wesiren.

Tunesische Lebensfreude beim Tunesien-Tag und dem begleitenden Shatranj-Turnier. Foto: Bernd-Jürgen Fischer
Tunesische Lebensfreude beim Tunesien-Tag und dem begleitenden Shatranj-Turnier. Foto: Bernd-Jürgen Fischer

Die entsprechenden Sonderfiguren stammten aus den Heimwerkstätten der Shatranj-Aficionados Jürgen Woscidlo und René Gralla. Das war Schach mit bunten Hinguckern: Neben dem Shatranj-Wettkampf zog ein „Tunesischer Tag“ im Asien-Afrika-Institut die Besucher an, und viele nutzten die unverhoffte Gelegenheit, in den Pausen ungewohnte Turnierluft zu schnuppern. Und spontan an freien Brettern die Figuren zu schieben.

Beim Spiel über arabische Kultur und Geschichte lernen: das Leitmotiv des Shatranj-Turniers, und Teilnehmerin Asia Haidar fand das „wunderschön“. Die examinierte Geografin war wegen des Bürgerkrieges aus dem syrischen Aleppo geflüchtet und hätte „nie erwartet, in Deutschland plötzlich klassisches Shatranj zu spielen!“

Setzte sich durch als beste weibliche Spielerin: Hamburgs neue Shatranj-Queen Asia Haidar (li.); mit Tunesiens Konsulin Frau Sonia Ben Amor (Mitte) und René Gralla (re.) vom Shatranj-Orga-Team. Foto: Bernd-Jürgen Fischer
Setzte sich durch als beste weibliche Spielerin: Hamburgs neue Shatranj-Queen Asia Haidar (li.); mit Tunesiens Konsulin Frau Sonia Ben Amor (Mitte) und René Gralla (re.) vom Shatranj-Orga-Team. Foto: Bernd-Jürgen Fischer

Hoch motiviert ging die 25-jährige ins Rennen, kombinierte die Konkurrenz in Grund und Boden – und überquerte als beste Frau die Ziellinie. Verdienten Sonderapplaus kriegte der Gitarrenlehrer Ferdinand Feil aus Hamburg, der Flamenco-Musiker schnappte sich den Newcomer-Preis. Während der erst neunjährige Manish Srinath die anderen Kids abhängte und Nummer Eins der Jugendlichen wurde.

Der Lohn der Mühen am Brett: die Pokale, die von der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft für das Shatranj-Turnier gestiftet wurden. Foto: Bernd-Jürgen Fischer
Der Lohn der Mühen am Brett: die Pokale, die von der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft für das Shatranj-Turnier gestiftet wurden. Foto: Bernd-Jürgen Fischer

Ein Trio landete punktgleich an der Spitze, und bloß minimale Abweichungen in der Wertung gaben den Ausschlag für die Rangverteilung. Physikstudent Julian Zeyn aus Winsen/Luhe musste dem Zweitplatzierten Hamburger Go- und Shogi-Spezialisten Martin Wolff knapp den Vortritt lassen, während letzteren ein kaum messbarer Abstand – der Luftzug eines Wimpernschlages hätte sich im Vergleich wie ein Orkan angefühlt – vom Sieger trennte. Der zu seiner eigenen Überraschung (und ein bisschen peinlich berührt) den dicksten Pott nach Hause tragen durfte: ein Ergebnis, das René Gralla vom Turnierkomitee für sich weder erwartet noch erhofft hatte.

Manchmal spinnen die eben, die vorgeblich unfehlbaren Computer. Egal, auch im Shatranj gilt eine Fußballerweisheit: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Und das zweite „Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial“ ist für 2017 bereits angekündigt, Arabische Kulturwochen-Mastermind Dr. Mohammed Khalifa hat das während der Verabschiedung den Turnierteilnehmern fest versprochen.

Außerdem will Tunesiens Konsulin Sonia Ben Amor beim Schachverband ihres Heimatlandes für ein Shatranj-Turnier unter Palmen werben, vielleicht in einem beliebten Urlaubsort.

Das Abenteuer hat gerade erst begonnen: Shatranj, das Schach aus Tausendundeiner Nacht, bringt uns heftig zum Träumen.

Merci, Tunesien, shukran!

Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016 – Endergebnistabelle
Place Name 1 2 3 4 5 Points SOS SOSOS
1 Gralla, René 8+ 3= 16+ 2= 5+ 4 85½ 399½
2 Wolff, Martin 11+ 12+ 7+ 1= 4= 4 84½ 406½
3 Zeyn, Julian 5+ 1= 4= 13+ 9+ 4 84 421½
4 Woscidlo, Jürgen 10= 15+ 3= 6+ 2= 85½ 406
5 Srinath, Manish 3- 11+ 12+ 7+ 1- 3 85 405
6 Meinköhn, Ian 12- 14+ 13+ 4- 11+ 3 80½ 413½
7 Feil, Ferdinand free 9+ 2- 5- 8+ 3 68 336
8 König, Rudolph 1- 10+ 14+ 9= 7- 84 393½
9 Haidar, Asia 13+ 7- 15+ 8= 3- 82½ 396
10 Baskin, Leon 4= 8- 11- 17+ 13+ 80 411½
11 Krahe, Fabian 2- 5- 10+ 12+ 6- 2 84½ 413
12 Meinköhn, Nils 6+ 2- 5- 11- 17+ 2 83 409
13 Mathapati, Ananya 9- 18+ 6- 3- 10- 1 83 400
14 Farouk, Bilal 16+ 6- 8- 1 77½ 366½
15 Trabelsi, Sabrin 18+ 4- 9- 1 77 381
16 ben Khemis, Chiheb 14- free 1- 1 62 303
17 Baskin, Oktay 10- 12- 0 74½ 373
18 Hadri, Donia 15- 13- 0 73 370

Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016

Die Originalversion des Schachspiels, nämlich Shatranj, das Schach der Kalifen, kommt zurück anlässlich eines Revival-Turniers am Sonnabend, 22. Oktober 2016, in Hamburg, Germany. Anlass sind die „Arabischen Kulturwochen 2016“, die bis Mitte Dezember 2016 in Hamburg und Bremen stattfinden.

Shatranj-Brett und Figuren by René Gralla
Shatranj-Brett und Figuren by René Gralla

Das historische Turnier, das realisiert wird mit freundlicher Unterstützung des Tunesischen Konsulats in Hamburg sowie der Deutsch-Tunesischen Gesellschaft, wird eingebettet in einen „Tunesischen Tag“, der zum breit gefächerten Programm der „Arabischen Kulturwochen 2016“ gehört. Der Ort des Turniers im Asien-Afrika-Institut liegt verkehrsgünstig in der Nähe der S-Bahn-Station Hamburg-Dammtor (wo auch Fernzüge halten).

Warum kann man dieses Turnier ohne Übertreibung „historisch“ nennen?

Shatranj, das ehrwürdige Schach der Kalifen, ist die Originalversion jenes Schachspiels, nach dessen Regeln über 800 Jahre lang Menschen ihre Partien austrugen weltweit überall dort , wo die Kunst des Mattsetzens gepflegt wurde. Und zwar sowohl in der muslimisch geprägten Hemisphäre als auch im christlichen Abendland, von Bagdad bis Rom, vom maurischen Granada bis nach Paris und Worms im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

https://en.wikipedia.org/wiki/File:A_treatise_on_chess_2.jpg
An illustration from a Persian manuscript „A treatise on chess“ The Ambassadors from India present the Chatrang to Khosrow I Anushirwan, „Immortal Soul“, King of Persia; 14th century

Einer der ersten prominenten Fans des besagten Shatranj – in dem „Elefanten“ statt „Läufer“ das 64-Felder-Brett unsicher machten und diskrete „Wesire“ statt dominanter „Damen“ ihre Fäden sponnen (siehe Foto oben) – war der berühmte muslimische General ‚Amr ibn al-‚As (ca. 585-664), der Ende 639 in Ägypten einmarschierte und im Sturmlauf die Oströmer vertrieb.
Wenige Jahrzehnte später staunten die Zeitgenossen über Sai’id ibn Jubair (665-714), den ersten Champion der Schachgeschichte, der seine Matches quasi „blind“, nämlich ohne Ansicht des Brettes, austragen konnte. Und daher wird jetzt auch das Hamburger Shatranj-Revival-Turnier 2016 zu Ehren des legendären Meisters veranstaltet.

Die ersten Aliyat – die Ehrenbezeichnung ist das Gegenstück zum modernen Titel des Großmeisters – wurden ab 819 von den Kalifen persönlich ernannt, daher kann man das Shatranj mit Fug und Recht auch das Schach der Kalifen nennen. Berühmte Aliyat und Autoren waren al-Adli, ar-Razi und as-Suli, die im 9. und 10. Jahrhundert epochale Lehrbücher publizierten über Taktiken und Strategien im Shatranj.
Dieser reichhaltige kulturelle Schatz ist für die meisten Menschen jedoch leider in Vergessenheit geraten, weil Schach seit dem Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr nach den Regeln des Shatranj gespielt wird. Schließlich wurden im Gefolge massiver Regeländerungen, und zwar ausgehend von Spanien und Italien, im Szenario der 64 Felder die bereits erwähnten „Elefanten“, die aus orientalischen Träumen zu kommen schienen, durch Läufer ersetzt sowie die „Wesire“, die zuvor spielerisch in Geschichten aus Tausendundeiner Nacht entführt hatten, zu Gunsten der Damen in die (denk-)sportgeschichtliche Versenkung geschickt. So dass fortan höchstens noch Spezialisten die inspirierende Schönheit des versunkenen Shatranj-Universums kannten.
Aber jetzt – anlässlich der „Arabischen Kulturwochen 2016“ – erlebt Shatranj, die arabische Originalversion des Schachspiels, ihr längst überfälliges Revival in Gestalt des „Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016“ in Hamburg, Germany.

Dann wird auf diese Weise in der Hansestadt an der Elbe ein Stück moderner (Denk-)Sportgeschichte geschrieben – zumal das bevorstehende Turnier noch aus einem anderen Grund äußerst symbolträchtig ist. Denn schon vor gut 100 Jahren, und zwar von 1913 bis 1915, wurde in Deutschland ein erster Anlauf genommen, um das Shatranj wiederzubeleben: mit einem Korrespondenzturnier, das die renommierten Fachmagazine „Deutsches Wochenschach“ und „Berliner Schachzeitung“ gemeinsam ausschrieben und an dem damalige Topleute wie Walther Freiherr von Holzhausen (1876-1935) teilnahmen.
An jenen Vorstoß vor gut 100 Jahren knüpft im frühen 3. Jahrtausend nun das „Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016“ in Hamburg an. Bereits im November 2015 wurde ein Testlauf, in Form eines Schülerturniers an der Hamburger Grundschule Grumbrechtstraße gestartet. Jetzt wird dem im Rahmen der „Arabischen Kulturwochen 2016“ eine quasi offizielle Note verliehen. Mit dem erklärten Ziel der Organisatoren René Gralla, Jürgen Woscidlo – die unterstützt werden von Hamburgs Shôgi-Webmaster Fabian Krahe – das großartige Originalschach „Shatranj“ endlich den Kindern Arabiens zurückzugeben und damit natürlich auch dem Rest der Welt!

Und das wiederum hat zusätzlich eine ganz besondere Bedeutung in diesen Tagen – da ja nach Deutschland viele Menschen aus dem arabischen Kulturraum gekommen sind, und jetzt dürfen diese Menschen mit Stolz erfahren, dass Arabiens Originalschach Shatranj gerade hierzulande neue Wertschätzung erfährt.

Wer sich kurzfristig dazu entschließt, das Shatranj im bevorstehenden Hamburger Turnier auszuprobieren (ein Startgeld wird nicht erhoben!), meldet sich per Email an unter jwoscidlo@msn.com oder renegralla@gmx.net (oder spontan am Turniertag vor Ort im Turniersaal bis spätestens 11.45 Uhr).

Das Sa’id ibn Jubair-Shatranj-Memorial 2016
ist ein eintägiges Shatranj-Turnier
nach Schnellschach-Regeln / 15 Minuten pro Spieler und Partie,
an der Universität Hamburg, Asien-Afrika-Institut, Edmund-Siemers-Allee 1, 20146 Hamburg,
Raum 121; Beginn: 12:00 Uhr
Es wird kein Startgeld erhoben


Übrigens nehmen Schachhistoriker eben auch an, dass Shôgi seine Wurzeln gerade nicht in Chinas Xiangqi hat, sondern in Thailands Makruk – und damit eben auch im Shatranj – weil der „Silbergeneral“ im Shôgi dem „Khon“ im Makruk entspricht, und weil die letztgenannte Figur aus dem Makruk eine Weiterentwicklung des „Elefanten“ des Shatranj ist; und außerdem Xiangqi allein der „Wagen“ – nicht jedoch der „General“ im Xiangqi – genau so zieht wie die Gegenstücke in Shôgi, Makruk und Shatranj.

René Gralla