Um die Ehre der Ratte … in Zeiten von Corona …

Von René Gralla

Momentan regieren uns kosmische Kräfte unter dem Zeichen der Ratte, nach dem chinesischen Horoskop. Eine Erkenntnis, die während der aktuellen Corona-Pandemie, deren erstes Aufflackern im Dezember 2019 aus dem chinesischen Wuhan berichtet worden ist, nicht ernsthaft für gute Laune sorgt. Zumindest in der westlichen Hemisphäre leidet die Ratte unter einem denkbar miesen Image; das ist geschuldet einer kollektiven Erinnerung an die Pest, die von 1346 bis 1353 auf dem Alten Kontinent wütete und rund 25 Millionen Opfer forderte, das war ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas. Der Schwarze Tod hatte seine Schreckensreise in Zentralasien begonnen und war von Rattenflöhen verbreitet worden.

Resultat: die verheerendste Seuche der Weltgeschichte. Und daher wäre es allen echten Freunden der großartigen Kultur aus dem Reich der Mitte deutlich lieber gewesen, der Büffel – laut Kalender erst ab dem 12. Februar 2021 das astrologische Leittier der Folgesaison – hätte sich zwischendurch bereits auf die Hinterbeine gestellt und der Ratte robust bedeutet, sie solle sich vorsorglich in eines ihrer Löcher kuscheln und uns nicht bis Ende 2020 die Laune vermiesen. Eine putzige, wenngleich natürlich völlig irreale Vorstellung, zumal zwischen Beijing und Hongkong niemand ernsthaft nachvollziehen kann, welche negativen Reflexe der suboptimal beleumundete Nager bei historisch bewanderten Langnasen auslöst.

In China nämlich genießt das besagte Tierkreiszeichen einen exzellenten Ruf. Personen, die im Jahr der Ratte geboren werden, sollen ehrenhaft und ehrlich sein, und obendrein werden die Betreffenden im Freundeskreis als großzügig in finanziellen Fragen geschätzt. Ein unzweifelhaft positives Profil, und dazu passt wiederum, dass Ratten im Tierreich als High Performer gelten. Sie sind sozial und intelligent, und außergewöhnlich gelehrige Exemplare der Gambia-Riesenratte werden mittlerweile sogar für die Minenräumung trainiert, das berichtete Sinstorfs Schachkulturbotschafter Jürgen Woscidlo per E-Mail dem Verfasser dieser Zeilen.

Außerdem teilte Norddeutschlands Mister Multi-Kulti-Chess eine weitere staunenswerte Beobachtung zum Verhalten der neugierigen und geselligen Tiere mit: „Ich hatte 1983 das Vergnügen, in einer Tagesstätte für Körperbehinderte ein Praktikum zu absolvieren. Der dort tätige Musiktherapeut Harald Melchior intonierte jeden Dienstag und Donnerstag in seinem Raum verschiedene Stücke von Beethoven und Mozart auf der Querflöte. Und regelmäßig stellten sich dann Ratten und Mäuse als Publikum ein, die still der Musik lauschten!“

In der Konsequenz ist es dringend an der Zeit gewesen, in diesen irren Tagen und Wochen, die manchen den letzten Nerv rauben und andere in raunende Verschwörungstheoretiker verwandeln, wenigstens in Bezug auf die Ratte einen symbolischen Akt der Ehrenrettung zu wagen – bevor womöglich noch total durchgeknallte Hate Speaker auf die idiotische Idee verfallen wären, nach der Pest hätten die Ratten vielleicht auch etwas mit Corona zu tun (haben sie natürlich nicht, Stupid!).

Umgesetzt wurde das ambitionierte Projekt mit einer augenzwinkernden Reverenz an eine uralte Tradition: Gottesurteile durch Zweikampf, denen wir wahlweise fasziniert und schockiert in der spannenden TV-Fantasy-Serie „Game of Thrones“ virtuell beigewohnt haben.

Selbstverständlich haben wir uns insofern für eine zivilisierte, weil weniger blutrünstige Variante entschieden: in der Form eines mentalen Duells, dem sich eine autorisierte Vertrauensperson der stolzen Nation cleverer Spürnasen stellen sollte, und zwar am Schachbrett. Auf diese Weise ist die zauberhafte Göttin Caissa um eine Entscheidung angerufen worden – damit es künftig kein Ignorant mehr wagen dürfte, den Namen der Ratte in den Dreck zu ziehen.

Die Schachgöttin Caissa auf einer Briefmarke von Paraguay.

Die schöne Caissa war konkurrenzlos kompetent für einen derart brisanten Ratschluss. Schließlich zählt sie, wie der italienische Humanist und Dichter Marcus Hieronymus Vida (1485-1566) in seinem lyrischen Epos „Scachia Ludus“ referiert hat, zur Familie der Nymphen und ist nach griechischer und römischer Mythologie eines jener weiblichen Geistwesen, die in Bäumen, Grotten oder an stillen Wassern wohnen. Um Flora und Fauna zu beschützen – und folgerichtig auch die Ratte, die ihren unverzichtbaren Part im Orchester der Natur spielt.

Was allerdings hat eine gute Fee wie Caissa eigentlich mit Schach zu tun?! Während antike Quellen dazu schweigen, imaginierte Erfolgsautor Vida – sein 1527 publiziertes „Scachia Ludus“ war ein Bestseller im 16. Jahrhundert – ein amouröses Szenario in transzendenter Dimension: Die aus den Wäldern Thrakiens stammende Caissa habe das Herz des Kriegsgottes Ares gebrochen. Schnöde ließ die elfengleiche Schönheit den flirtwilligen Schlachtenlenker abblitzen, und der Verschmähte weinte sich bitterlich beim Co-Olympier Apollon aus. Dem unsterblichen Kollegen kam plötzlich ein Geistesblitz: Apollon kreierte Schach, als fein gestrickte Liebesgabe, die der Ares seiner spröden Angebeteten darbringen sollte.

Unzählige Generationen nach der legendären Pleite des Ares bei Caissa sollte heuer nun eine veritable Partie des Millenniums – zwecks Wahrung der lädierten Reputation der Ratte – am 16. Mai 2020 im Hamburger Lokal „Rheinischer Hafen“ steigen. Im Rahmen dieses denkwürdigen Sonnabends galten die Regeln der thailändischen Schachversion Makruk, und zwar aus einem speziellen Grund, der sich am außergewöhnlichen Spirit des Events orientierte: Siams Vintage Chess ähnelt beinahe deckungsgleich dem Proto-Schach, das Chaturanga hieß und vor gut anderthalb Jahrtausenden in Indien erfunden wurde, und dürfte deswegen aus höherer Sicht quasi eine Replik des Game of Games aus der Werkstatt des Apollon repräsentieren.

Die Partei, die der Ratte die Hölle heiß machen sollte, führte frohgemut die weißen (!) Steine (Attention, Weiß gilt als Farbe der Unschuld!), und Leitwolf der Unbefleckten war Meister Weeraphon Junrasatpanich, der am 13. Juni 2015 das „PTT King Naresuan The Great Makruk Memorial“ im Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg souverän gewonnen hatte. Der Autor und Rechtsanwalt Dr. René Gralla übernahm den schwierigen Job, im Auftrag der Ratte die schwarze Seite zu verteidigen (wie es üblicherweise sonst auch zum Berufsverständnis eines Advokaten gehört), und symbolträchtig wurde die Figur des Black King gegen eine Porzellanplastik des wieseligen Kleinvierbeiners ausgetauscht.

Corona-gerecht maskiert am Start zum freundschaftlichen Rattenrennen in der Mini-Makruk-Arena der 64 Felder unter dem Banner des Königreiches Siam im Hamburger Kölsch-Lokal „Rheinischer Hafen“ : Dr. René Gralla (re.), Prozessbevollmächtigter und Spielführer der gemein und oft geschmähten Nager (eine Ratte im Miniaturformat aus dem Sortiment von „Hegrat`s Asien-Haus“ in Hamburg besetzt am rechten unteren Bildrand in der Ausgangsposition vor Matchbeginn das Feld des schwarzen Monarchen) versus Weeraphon Junrasatpanich (li.) als Kommandeur der Weißen. Foto: Chatchawan Thongmi (c) 2020.

Und so konnte das epochale Match beginnen … das nach wechselhaftem Ringen mit einem versöhnlichen Ergebnis endete: Die Gegner einigten sich – unter gewissenhafter Beachtung der regierungsamtlichen Vorgaben zur Pandemiebekämpfung – per Jens-Spahn-Style-Ellenbogencheck auf Unentschieden.

Ein gerechtes Resultat, das an notorische Aluhutträgerinnen und -träger eine klare Botschaft sendet: Die schlaue Ratte aus dem chinesischen Horoskop hat nichts und NADA mit all` den Herausforderungen zu tun, die uns seit Beginn des Jahres 2020 beschäftigen. Das ist das Urteil der unbestechlichen Caissa.

Freuen wir uns deswegen auf den weiteren Verlauf des Jahres der Ratte: Wer die charmante Caissa an seiner Seite weiß, kann nur gewinnen!

Mattjagd mit Makruk – wer die schöne Göttin Caissa an seiner Seite weiß und ein leichtes Getränk in Händen hält, dem kann eigentlich nicht bange werden (der Autor René Gralla als Gelegenheits-Model für eine kultige Jägermeister-Kampagne in den 1970-er Jahren; das Foto wurde aufgenommen am 13. Dezember 1977 in einem Studio in Düsseldorf und veröffentlicht von der TV-Zeitschrift „Gong“ in der Programmwoche 29.9. – 5.10.1979). Reproduktion des Bildes: Bernd-Jürgen Fischer, Hamburg 2020.